Anfang 2017 hatte ein Forschungsverbund unter Federführung der Leibniz Universität Hannover die Forschungsrakete MAIUS-1 ins All geschossen. Während des Fluges untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dort in mehr als 100 Experimenten das Verhalten von Materiewellen und erstmals Bose-Einstein-Kondensate im Weltall. Nun haben sie erste Ergebnisse dieser Mission in der renommierten Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.
Die Autorinnen und Autoren berichten darin über die Erzeugung und Beobachtung der sogenannten Bose-Einstein-Kondensation, einem extremen Zustand nahe dem Temperatur-Nullpunkt in dem Materie eine Welle formt. „Dies ist uns sogar mit einer größeren Anzahl von Atomen gelungen, als wir zuvor erwartet hatten“, zeigt sich Maike Lachmann vom Institut für Quantenoptik der Leibniz Universität Hannover zufrieden. Die Physikerin ist Teil des Teams, das die komplizierten Experimente geplant und durchgeführt hat. Die hohe Teilchenzahl wie auch die hohe Anzahl an Experimenten gelang mit Hilfe eines so genannten Atomchips. Neben der Erzeugung des Bose-Einstein-Kondensats, haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit seiner Hilfe die entstehenden Materiewellen geführt, geformt und ihr Verhalten im freien Fall studiert. Im All konnten diese Experimente ungestört von der Schwerkraft durchgeführt und anschließend mit theoretischen Modellen verglichen werden. Mit den Modellen können nun Strategien entwickelt werden, um zukünftige Weltraumexperimente am Boden schneller und besser vorzubereiten. „Wir wollen ja keine 20 Raketen abfeuern“, scherzt Projektleiter Professor Ernst Rasel.
Erst ein Bruchteil der Ergebnisse ist bisher ausgewertet. Ein Fokus liegt jetzt auf den Experimenten zur Interferometrie der Materiewellen, also der Messung, wie sich mehrere Wellen überlagern. Interferometer mit Bose-Einstein-Kondensaten im All gelten gegenwärtig als der vielversprechendste Ansatz für Messungen mit unerreichter Genauigkeit, da die Empfindlichkeit der Messung mit der Dauer des freien Falls steigt. Damit werden zukünftig beispielsweise die sehr präzise Vermessung des Gravitationsfeldes der Erde oder die Entwicklung genauerer und satellitenunabhängiger Navigationsgeräte möglich. Aber auch grundlegende Fragen der Physik, etwa zur Relativitätstheorie Albert Einsteins, wollen die Forscherinnen und Forscher überprüfen.
Bislang galt dies aber aufgrund der Komplexität der Experimente und der bei einem Raketenstart und im All herrschenden extremen Anforderungen als nicht durchführbar. „Diese Missionen stoßen daher auch auf sehr viel Skepsis. Selbst die meisten Experten bezweifelten, dass unser Ansatz realisierbar wäre“, erinnert sich Rasel. Dem Team der beteiligten Forschungseinrichtungen ist es jedoch mit Hilfe des Atomchips gelungen, den ursprünglich raumgroßen Versuchsaufbau so zu miniaturisieren, dass er in die Forschungsrakete passte.
Die nun veröffentlichten Ergebnisse sind auch für die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA von Interesse. Sie hat im Mai das Cold Atom Lab auf die internationale Raumstation ISS gebracht, um dort ähnliche Experimente durchzuführen. „Das NASA-Team ist sehr interessiert an unseren Erfahrungen. Wir freuen uns über die Zusammenarbeit“, erläutert Rasel. Die Kooperation soll nun noch ausgebaut werden. In einem gemeinsamen Projekt, welches auf den Erfahrungen der MAIUS-Mission und des Cold Atom Lab aufbaut, sollen ultrakalte Atome und Bose-Einstein-Kondensate auf der ISS in Langzeitversuchen erforscht werden.
Die neuen Anwendungsaspekte der Atomchips sind aber nicht nur für den Weltraum attraktiv: Mittlerweile öffnen sich auch viele, die vorher skeptisch waren, dem Einsatz von Atomchips und Bose-Einstein-Kondensaten für die Interferometrie für die Quantensensorik. Letztere sind ein wichtiger Baustein für Zukunftstechnologien, wie etwa die Erdbeobachtung mit Hilfe von Quantengravimetern oder Gyroskopen.
Die MAIUS-1 Forschungsraketen-Mission ist ein Kooperationsprojekt unter der Federführung der Leibniz Universität Hannover. Beteiligt sind zudem die Humboldt-Universität und das Ferdinand-Braun-Institut in Berlin, das Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation der Universität Bremen, die Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die Universität Hamburg, die Universität Ulm, die Technische Universität Darmstadt und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Gefördert wird die Mission mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie.
Hintergrund: Bose-Einstein Kondensat
Um ein Bose-Einstein Kondensat zu erzeugen, wird eine Wolke von Atomen in mehreren Schritten bis nahezu zum absoluten Temperatur-Nullpunkt herunter gekühlt, so dass die Bewegung der Atome beinahe zum Stillstand kommt. Die Atome erreichen dabei einen für Nicht-Physiker schwer vorstellbaren Aggregatzustand, der nicht mehr alleine mit klassischen Größen wie fest, flüssig oder gasförmig beschrieben werden kann. Sie verlieren ihre Eigenständigkeit und nehmen einen makroskopischen Wellenzustand ein, der ähnliche Eigenschaften hat wie die Laserstrahlung im Falle elektromagnetischer Wellen. Bose-Einstein-Kondensate zeigen eine Reihe ungewöhnlicher Eigenschaften wie Suprafluidität. Theoretisch wurden sie bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Nathan Bose und Albert Einstein vorhergesagt, aber erst 1995 experimentell in kalten Gasen realisiert.
Originalpublikation
D. Becker, M. D. Lachmann, S. T. Seidel, H. Ahlers, A. N. Dinkelaker, J. Grosse, O. Hellmig, H. Müntinga, V. Schkolnik, T. Wendrich, A. Wenzlawski, B. Weps, R. Corgier, D. Lüdtke, T. Franz, N. Gaaloul, W. Herr, M. Popp, S. Amri, H. Duncker, M. Erbe, A. Kohfeldt, A. Kubelka-Lange, C. Braxmaier, E. Charron, W. Ertmer, M. Krutzik, C. Lämmerzahl, A. Peters, W. P. Schleich, K. Sengstock, R. Walser, A. Wicht, P. Windpassinger, E. M. Rasel: Space-borne Bose-Einstein condensation for precision interferometry, Nature 562, 391-395 (2018), DOI: https://doi.org/10.1038/s41586-018-0605-1
Quelle: Referat für Kommunikation und Marketing